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Universität Hannover                          Wintersemester 2003/2004
Institut für Psychologie und Soziologie in den
Erziehungswissenschaften

Seminar:   Norbert Elias zum Verhältnis von Etablierten- und Aussenseitergruppen
Tutoren:   Christoph Hellmann, Felix Tietje

Ergänzungstext 1: Zum Begriff der Zwänge; Unterscheidung von vier Zwangsarten

Textauszug aus:
Elias, Norbert: Studien über die Deutschen
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1989 , S. 47 - 51
.

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[...]

Zentral für meinen Zugang zu menschlichen Problemen und dementsprechend auch zum Problem der Zivilisation ist die Untersuchung der Zwänge, denen Menschen ausgesetzt sind. Vier Arten, grob gesprochen, lassen sich dabei unterscheiden:

a. Die Zwänge, denen Menschen ausgesetzt sind aufgrund der Eigenart ihrer animalischen Natur. Der Zwang des Hungers oder des Geschlechtstriebs sind die offenbarsten Beispiele für Zwänge dieses Typs. Aber zu ihnen gehören ebenso der Zwang des Älterwerdens, des Altwerdens und Sterbens, der Zwang des Verlangens nach Zuneigung und Liebe oder auch des Hasses und der Feindseligkeit, die in Menschen spontan aufwallen, und vieles mehr.

b. Die Zwänge, die aus der Abhängigkeit von nicht-menschlichen Naturgeschehnissen stammen, also vor allem der Zwang der Nahrungssuche oder der Zwang zum Schutz vor den Unbilden der Witterung, um nur diese zu nennen.

c. Die Zwänge, die Menschen beim Zusammenleben aufeinander ausüben. Sie werden oft begrifflich als »gesellschaftliche Zwänge« erfaßt. Aber es ist nützlich, sich klarzumachen, daß alles, was wir als gesellschaftliche oder gegebenenfalls auch als wirtschaftliche Zwänge bezeichnen, Zwänge sind, die Menschen auf Menschen ausüben, aufgrund ihrer Interdependenz. Ich will sie provisorisch als Fremdzwänge bezeichnen. Solche Fremdzwänge finden sich in jeder Zweier- oder Dreierbeziehung. Jeder Mensch, der mit anderen zusammenlebt, der von anderen abhängig ist - und das sind wir alle -, ist aufgrund dieser Abhängigkeit Zwängen unterworfen. Aber wir sind auch Fremdzwängen unterworfen, wenn wir mit 50 Millionen Menschen zusammenleben; wir müssen zum Beispiel Steuern zahlen.

d. Von den Zwängen aufgrund der animalischen und besonders der Triebnatur des Menschen ist ein zweiter Typ von individuel-


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len Zwängen zu unterscheiden, auf den wir etwa mit einem Begriff wie »Selbstkontrolle« hinweisen. Auch was wir »Verstand« nennen, ist unter anderem eine Selbstkontrollapparatur, und ebenso das »Gewissen«. Ich bezeichne diese Art von Zwängen als Selbstzwänge. Sie sind von den naturalen Triebzwängen verschieden, da uns biologisch nur ein Potential zum Selbstzwang mit auf den Weg gegeben ist. Wenn dieses Potential nicht durch Lernen, also durch Erfahrung, aktualisiert wird, bleibt es latent. Grad und Gestalt seiner Aktivierung hängen von der Gesellschaft ab, in der ein Mensch aufwächst, und wandeln sich in spezifischer Weise im Fortgang der Menschheitsentwicklung.

An diesem Punkt setzt die Zivilisationstheorie ein. Das Zusammenspiel der vier Arten von Zwängen, ihre Konstellation, ändert sich. Die elementaren Zwänge der Menschennatur - der erste Zwangstyp - sind mit relativ geringen Variationen auf allen Stufen der Menschheitsentwicklung, also auch bei allen Rassen unserer Gattung, des Homo sapiens, die gleichen. Das Muster der Selbstzwänge dagegen, die sich im Zusammenhang mit Erfahrungen entwickeln, ist höchst ungleich. Das gilt besonders für das Verhältnis von Fremd- und Selbstzwängen in Gesellschaften auf verschiedenen Entwicklungsstufen und in geringerem Maße auch in verschiedenen Gesellschaften auf derselben Stufe.

Es gibt, soweit mir bekannt, keine menschliche Gesellschaft, in der die Zügelung der elementaren animalischen Impulse von Menschen allein auf Fremdzwang, also auf der Furcht vor anderen oder dem Druck von anderen, beruht. In allen menschlichen Gesellschaften, die wir kennen, wird durch den Fremdzwang der frühkindlichen Erziehung ein Muster von Selbstzwängen ausgebildet. Aber in einfacheren Gesellschaften, und in der Tat in Agrargesellschaften über die ganze Welt hin, ist die Selbstzwangapparatur verglichen mit der, die sich in hochdifferenzierten und besonders in mehrparteilichen Industriegesellschaften entwickelt, relativ schwach und, wenn man es einmal so ausdrücken darf, lückenhaft. Das heißt, die Mitglieder der ersteren bedürfen zur Selbstzügelung in sehr hohem Maße der Verstärkung durch die von anderen erzeugte Furcht, den von anderen ausgeübten Druck. Der Druck kann von anderen Menschen, also etwa von einem Häuptling ausgehen oder von imaginierten Figuren, also etwa von Ahnen, Geistern oder Göttern. Was immer die Form, es bedarf hier eines sehr erheblichen Fremdzwanges, um bei Men-


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schen das Selbstzwanggefüge zu stärken, das für ihre eigene Integrität, ja für ihr Überleben - wie auch für das der anderen Mitlebenden - erforderlich ist.

Zivilisationsprozesse sind, wie ich bei meinen Untersuchungen fand, gekennzeichnet durch eine Veränderung im Verhältnis von gesellschaftlichen Fremdzwängen und individuellen Selbstzwängen. Es ist nur eines von mehreren Kriterien, aber ich konzentriere mich hier darauf, da es einen relativ einfachen Zugang zu den gar nicht einfachen Problemen des zeitgenössischen Informalisierungsschubes eröffnet.

Denken wir an ein Kind, das häufig von seinem zornigen Vater geschlagen wird, wenn es in dessen Augen unartig ist. Ein solches Kind wird aus Furcht vor dem Vater lernen, mißliebiges Verhalten zu unterlassen. Aber seine Selbstzwangapparatur entwickelt sich in dieser Hinsicht nur unvollkommen. Es bleibt, um sich selbst zügeln zu können, auf die Bedrohung durch andere angewiesen. Sein Vermögen, sich selbst zu zügeln, könnte sich stärker entwickeln, wenn der Vater durch Überredung, durch Argumente, durch Zeichen der Zuneigung das Kind dazu brächte, daß es das mißliebige Verhalten von sich aus unterläßt. Aber das häufig geschlagene Kind lernt nicht, sich unabhängig von einem Fremdzwang, ohne die Drohung der väterlichen Strafe selbst zu zügeln, und ist dementsprechend auch seinen eigenen Haß- und Feindseligkeitsimpulsen in hohem Maße ausgeliefert. Die Wahrscheinlichkeit, daß es seinerseits zum Schläger wird, also sich den Vater, ohne es zu wissen, zum Vorbild nimmt, ist sehr groß.

Man kann dieses Beispiel unschwer auf politische Systeme übertragen. Mitglieder einer Staatsgese1lschaft, die sehr lange absolutistisch, also von oben regiert worden sind, in der Form dessen, was wir einen Polizeistaat nennen, entwickeln ganz analog Persönlichkeitsstrukturen, bei denen ihr Vermögen der Selbstzügelung auf einen Fremdzwang angewiesen bleibt, auf eine starke Gewalt, die sie von außen mit Strafe bedroht. Ein nicht-absolutistisches, also ein Mehrparteienregime verlangt eine weit stärkere und festere individuelle Selbstzwangapparatur. Es entspricht dem Erziehungsmodell, in dem nicht durch den Stock, nicht durch Strafgewalt, sondern durch Überzeugung und Überredung eine solche Apparatur im einzelnen Menschen aufgebaut wird. Hier liegt einer der Gründe dafür, warum der Übergang von einem absolutistischen, diktatorischen oder auch von einem Häupt-


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lingsregime zu einem Mehrparteienregime so mühsam ist - obgleich sich die Mitbeteiligung und Urteilsbildung der Regierten bei der heutigen Art der Mehrparteienherrschaft noch in recht engen Grenzen hält. Im Sinne der Persönlichkeitsstruktur macht selbst diese geringe Beanspruchung der Urteilsbildung und Selbstkontrolle der einzelnen Wähler Menschen, die unter einem Häuptlingsregime gelebt haben, enorme Schwierigkeiten; das gilt besonders für den emotional kontrollierten Wahlkampf und die Mäßigung der Leidenschaften, die er verlangt. Diese Schwierigkeiten sind so groß, daß es gewöhnlich drei, vier oder fünf Generationen dauert, ehe das Einspielen der Persönlichkeitsstrukturen auf die gewaltlose Form des Parteienkampfes gelingt.

Im Zuge eines Zivilisationsprozesses wird, mit einem Wort, die Selbstzwangapparatur im Verhältnis zu den Fremdzwängen stärker. Sie wird darüber hinaus gleichmäßiger und allseitiger. Auch für den letzten Punkt ein Beispiel: In Gesellschaften mit einer sehr großen Ungleichheit der Machtgewichte entwickelt sich eine Selbstkontrollapparatur bei den Establishments, den Machthabern, den Höhergestellten hauptsächlich in bezug auf ihresgleichen. Im Verkehr mit Tiefergestellten braucht man sich, wie es die Sprache uns in den Mund legt, keinen Zwang anzutun, man kann sich gehenlassen. Andreas Capellanus, der im 12. Jahrhundert über die Regeln des Verhaltens von Männern und Frauen schrieb, erörtert im einzelnen, wie sich ein Adliger gegenüber einer sozial höherstehenden, einer sozial gleichgestellten und auch einer »plebejischen« Frau benehmen solle. Wo er auf das Verhältnis zu Bauernmädchen zu sprechen kommt, ist es so gut, als ob er sagte: »Da kannst du machen, was du willst.«[9] Eine höfische Dame des 18. Jahrhunderts läßt sich von ihrem Kammerdiener im Bade bedienen: er ist für sie kein Mann, kein Mensch, vor dem sie sich schämen muß.[10] Verglichen mit diesen früheren Gesellschaften, wird in den unseren ein allseitigeres Schamempfinden ausgebildet. Das soziale Gefälle ist gewiß noch groß genug, aber im Zuge des Demokratisierungsprozesses haben sich die Machtdifferentiale verringert. Dem entspricht es, daß wir


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im Verkehr mit allen Menschen ein relativ hohes Maß von Selbstzügelung entwickeln müssen, auch im Verhältnis zu sozial Untergebenen.




Fußnoten

[9]  Andreae Capellani, De amore libri tres, hrsg. von E. Trojel, Kopenhagen 1892, S.235 f.

[10]  Vgl. N. Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Bd. I, Frankfurt a. M. 1976, S. 188; auch ders., Die höfische Gesellschaft, Neuwied/Berlin 1969, S. 77, Anm. 22.


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