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"Die menschliche Kommunikation ist ein Kunstgriff, dessen Absicht es ist, uns die brutale Sinnlosigkeit eines zum Tode verurteilten Lebens vergessen zu lassen. Von 'Natur' aus ist der Mensch ein einsames Tier, denn er weiß, dass er sterben wird und dass in der Stunde des Todes keine wie immer geartete Gemeinschaft gilt: Jeder muss für sich allein sterben. Und potentiell ist jede Stunde die Stunde des Todes. Selbstredend kann man mit so einem Wissen um die grundlegende Einsamkeit und Sinnlosigkeit nicht leben. Die menschliche Kommunikation webt einen Schleier der kodifizierten Welt, einen Schleier aus Kunst und Wissenschaft, Philosophie und Religion um uns und webt ihn immer dichter, damit wir unsere eigene Einsamkeit und unseren Tod, und auch den Tod derer, die wir lieben, vergessen. Kurz, der Mensch kommuniziert mit anderen, ist ein 'politisches Tier', nicht weil er ein geselliges Tier ist, sondern weil er ein einsames Tier ist, welches unfähig ist, in Einsamkeit zu leben."

Vilém Flusser, "Kommunikologie", 1998

Der gläserne Tod.

Es ist wichtig zu wissen, dass Du einmal sterben wirst - alles wandelt sich, der Tod kann jeden Augenblick kommen - also solltest Du es jeden Augenblick wissen. Alles andere ist illusorisch. Doch wohin führt dieses Wissen?

Zur Resignation? Wenn wir sowieso sterben, jeder für sich allein, dann könnte alles beliebig sein, dann bräuchten wir uns hier auch gar keine Mühe zu geben. Oder führt es zu Hoffnung, zu Motivation? Ja! Wenn wir jeden Augenblick sterben, dann lass uns diesen jetzigen Augenblick zelebrieren und ihn der unfassbaren Ewigkeit des Seins weihen.

Ich wählte die zweite Möglichkeit und ging aus dem Haus. Nein, wir waren beileibe keine einsamen Tiere. Ich sah sie: Die Bäume, das Wasser, die Wolken, die Luft, die Tiere, die Menschen. Alle in einem Tanz miteinander verwoben, fließende, faszinierende Figuren bildend. Und mit jedem Augenblick vergehend und sich neu erschaffend. Nichts hat Substanz. Und doch war alles wohlgeordnet. Niemand konnte ohne all die anderen leben. Nichts ohne das All.

Ich empfand ein etwas schwummeriges Gefühl, denn mein kleiner Organismus war auf die Mächtigkeit dieser Perspektive noch nicht genügend vorbereitet. Das alles gleichzeitig zu sehen und zu spüren - und dabei normal in einem Café ein frisches Getränk bestellen? Dabei fühlte ich mich immer wie ein Außerirdischer, oder wie ein Verrückter in einer Menge von "normalen" Menschen, die diese Wahrnehmung gerade nicht haben. Diese Aufgabe hatte ich noch immer nicht befriedigend gelöst. Aber der lieben Bedienung machte das nichts aus: "Ist es recht, wenn ich zwei kleine Gläser Schorle statt einem großen bringe?" Ja, recht - sehr recht sogar.

Die Zweiheit ist interessanter, aus der Beziehung vom einen zum anderen entsteht eine komplexere Struktur. Nicht nur bei Menschen, auch wenn es sich um zwei Gläser handelt. Die philosophische Frage, ob das Glas halbvoll oder halbleer sei, bekam plötzlich eine zusätzliche Dimension: Wenn eines der Gläser halb geleert war, dann gab es ja immer noch ein ganz volles. Und "halbvoll" bedeutete ja nun: Ein leeres und ein volles Glas. Und dann konnte man ja auch noch aus dem ganz vollen die Hälfte in das leere Glas umgießen und hätte zwei halb volle. Was ja dann wieder einem Ganzen entspricht, denn zwei Hälften, die sich in ihrer Komplementarität gleichen, fügen sich am Besten zusammen. "In der Komplementarität gleichen" - erscheint Dir das wie ein Paradoxon? Schwarz und Weiss sind gar nicht völlig gegenteilig. Denn beide Begriffe beziehen sich ja auf das Licht. Und Frauen und Männer? Auch sie haben ja Gemeinsamkeiten - solange sie Menschen sind. Und es kommt ja oft auch noch nicht mal auf das Geschlecht an - es gibt soo viele Menschen....

Menschen haben viele Ebenen, und überall können unterschiedliche Berührungspunkte gefunden werden. Und jede Berührung ist ein Austausch von Energie und Information. Aber es ist nicht alles beliebig kombinierbar. Kommunikation ist nur unter Gleichen möglich. Stell mal bitte eine Verbindung her, wenn die andere Seite keinen Eingang hat. Oder einen inkompatiblen Anschluss. Da hast Du keine Chance.

Doch, es stimmte schon, es musste eine Möglichkeit der Verbindung geben. Das Schwierige war, dass die vielfältigen Anschlussmöglichkeiten bei Menschen sich andauernd verändern. Deshalb greift diese Analogie zur Technik auch nicht korrekt. Das ist so, als gäbe es alle zwei Wochen eine neue Steckdosennorm und wir müssten immer alle Elektrogeräte austauschen. Neenee, so einfach ist's nicht. Doch manche Gedanken über menschliches Zusammenleben lesen sich ganz genau so. Und dann funktioniert es dort nicht, weil zu viele Denkfehler auftreten. Menschen sind organische Prozesse, in ständiger Verbindung und in ständigem Wandel. Es gibt keine rein technischen Lösungen. Lasst uns organisch werden. Geht auf für den Reiz!

Mit Feingefühl. Ob ein friedliches apolitisches Zusammenleben nicht doch funktioniert? Ohne feste Autoritäten und kapitale Kontrolleure? Kommunikation hatte schon immer mit Kommune zu tun. Und Kommunen ohne Kommunikation zerbrechen, das hat die Geschichte uns gezeigt. Menschen sind Symbolwesen, sie können nicht ohne Symbole leben und überleben. Symbole sind eine Energieform. Symbolentzug wäre der Tod für einen Menschen. Und gerade heute ist allerorten ein Verlust an Kommunikationsfähigkeit zu erleben - eigentlich merkwürdig.

Wie kann es sein, dass wir seit 1989 eine so unglaubliche Zunahme an Kommunikationstechnik und -möglichkeiten miterlebt haben, dass wir uns vor den gläsernen Menschen fürchten können, dass aber gleichzeitig eine Tendenz zu immer mehr Vereinzelung und Vereinsamung zu beobachten ist?

Durch die viele Technik findet nicht mehr und bessere Kommunikation statt - nein, es wird noch nicht besser kommuniziert. Denn es gibt dafür keine rein technischen Lösungen. Es ist ein Problem unserer Tätigkeit. Entwickeln wir uns also, lasst uns organisch werden.

"Was heisst Kommunikation?", fragte ich den Mann, der neben mir einen Kaffee schlürfte. "Kommunikation ist, wenn's trotzdem klappt.", sagte der seufzend. Naja, auf diesem Allgemeinplatz saß der Herr natürlich bequem. Aber ich suchte nicht nach einem gemütlichen Sofa, ich wollte die Verbindungen spüren.

Das erste Glas hatte ich ausgetrunken. Jetzt waren meine Gläser also immer noch halbvoll. Da niemand von uns weiss, wann der Zeitpunkt des Todes kommen wird, sollten wir uns in diesem Augenblick wieder daran erinnern, dass er kommen wird. Doch ständig mit dieser Ungewissheit im Bewusstsein zu leben, ist eine Herausforderung. Deshalb verlassen wir uns immer wieder gerne auf die Statistik, die uns eine durchschnittlich zu erwartende Lebensdauer von 70 Jahren zusichert. "Oh gut", dachte ich, "dann hab ich ja noch nicht mal die Hälfte erlebt".

Halbvoll oder halbleer? Ich goss nun feierlich aus dem vollen Glas die Hälfte der Schorle in das leere. Jetzt hatte ich zwei halbe Gläser. Was ja dann wieder einem Ganzen entspricht. Ein volles Glas....mein ganzes Leben lag also immer noch vor mir. Und es war nicht nur einfach ein Glas zum Austrinken - ich durfte es gestalten, mit ihm spielen, es verändern. Kommunikation war plötzlich nicht einfach nur kalter Informationsaustausch zwischen isolierten Einheiten - Nein, es bedeutete, Lebensstrukturen zu verändern. Jedes Gespräch, jeder Satz, jedes Wort eine innigste intime Berührung. Die Entwicklung des Lebens hängt von den Kommunikations-Beziehungen ab, die sich auf allen Ebenen des Lebens entwickeln. Aus den Beziehungen vom einen zum anderen entsteht eine komplexere Struktur. Energien werden ausgetauscht, vermischt und assimiliert. Intuitive organische Assoziation. Da gab es nirgends einsame Einzelteile. Alles war schon immer mit allem verbunden.

Und bei den Menschen als Symbolwesen? Wenn das menschliche Leben durch die zunehmenden Mängel der Kommunikation zu zerbrechen droht - sollen wir diese Entwicklung dann hinnehmen, so wie wir unserem individuell-eigenen Tod ins Auge sehen? Nein, denn nur weil ich sterbe, heisst es nicht, dass die Menschheit stirbt. Und es gibt kein Ich ohne die Menschheit, und keine Menschheit ohne Iche. Wir sind keine isolierten Einzelwesen. Vielleicht müssen wir, um das Kommunikationsproblem zu lösen, doch noch mal die Kommunenlösung ansprechen und überdenken?

"Das hat nie funktioniert und kann nicht funktionieren", meinte der Mann neben mir. "Kommune bedeutet Diktatur des Proletariats! - Frankreich, 1871. Und Diktaturen?? Ich bitte Dich!"
Oho. Na gut. Ja, nee, Diktaturen hatten immer irgendwo ein Problem. Aber damals gab es noch keinen guten Kommunikationsbegriff. "Trotzdem kann es so nicht funktionieren", bestand der Mann, "das würde heute nur zu chaotischer Anarchie führen."

Da hatte er wohl recht - wenn die Menschen nicht gut kommunizieren können, wie sollen wir dann unser Zusammenleben regeln? Denn Regeln braucht es, Anarchie bedeutet nicht Regellosigkeit. Und Kommunen ohne Kommunikation zerbrechen. Und nur weil wir so viel Kommunikationstechnik besitzen, können wir noch nicht automatisch gut kommunizieren. Es hakt also noch an einigen Ecken.

Die Erlösung ist nicht in Sicht. Aber ist denn das wichtig? Müssen wir das endgültige Ziel sehen, um uns auf den Weg zu machen? NEIN! Das Ziel ist der Weg! Wenn wir auf dem Richtigen Weg sind, ist bereits alles gut. Denn das Ich ist nicht der Gehende. Das Leben, es geht in uns und durch uns hindurch. Die Iche sterben. Doch es geht weiter. Drum zelebrieren wir jetzt diesen Augenblick und weihen ihn der unfassbaren Ewigkeit des Seins! Die beste Verwendungsmöglichkeit für unsere Lebenszeit liegt darin, sie für etwas zu nutzen, das dieses Leben überdauert.

Ich zahlte meine zwei Schorlen und ging weiter. Jeder Schritt ist ein Schritt zum Tode. Und jeder Tod - jedes Ende bedeutet Platz für eine neue Entwicklung. Oft fällt es schwer, im Angesicht des Todes mit unserer unfertigen Sprache zu kommunizieren. Und so entwickelte sich hier ein kulturelles Loch, das die Schwellenzeiten des Lebens oftmals schwer thematisieren lässt. Für die Wesentlichen Dinge gibt es oftmals keine Worte. Doch nur weil es die Worte nicht gibt, um die Tiefe des Todes zu begreifen, heisst es nicht, dass dahinter nichts existiert. Aber das übersehen die Menschen als Symbolwesen schnell. Und halten dann ihre unfertige Symbolwelt für die wahre Realität. Und so begreifen wir auch oft nicht die Tiefe des Augenblicks und unseres eigenen Daseins. Und dann fühlen wir uns wie einsame Tiere, und der kleine Tod im Bett ist scheinbar der einzig erstrebenswerte Höhepunkt des Lebens.

Doch es gibt Möglichkeiten, die Verbindungen zu aktivieren. Verbindungen sind nichts anderes als fließende Liebe. Jeder Mensch muss für sich allein sterben. Aber jeder Mensch kann lieben. Und so leben. Das Leben, es geht in uns und durch uns hindurch, genau wie die Liebe. Der Prozess ist unaufhaltsam. Genau wie der Tod.

Felix Tietje - 2003
Auch veröffentlicht unter 
Babsies Diktatur

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