Home
 Texte
 Fakten

Kontakt
Mail an Felix

Carl Gustav Jung:
d 7
Septem Sermones ad Mortuos
(1916)

Die sieben Belehrungen der Toten
Geschrieben von Basilides in Alexandria,
der Stadt, wo der Osten den Westen berührt.


Inhaltsübersicht

> Seite 1:  Sermo I       Sermo II       Sermo III
   Seite 2:  Sermo IV     Sermo V       Sermo VI
                Sermo VII        Anagramma

zurück zum Inhalt
nach unten zu Belehrung II

Sermo I

Die Toten kamen zurück von Jerusalem, wo sie nicht fanden, was sie suchten. Sie begehrten bei mir Einlass und verlangten bei mir Lehre und so lehrte ich sie:

Höret: ich beginne beim Nichts. Das Nichts ist dasselbe wie die Fülle. In der Unendlichkeit ist voll so gut wie leer. Das Nichts ist leer und voll. Ihr könnt auch ebenso gut etwas anderes vom Nichts sagen, zum Beispiel es sei weiß oder schwarz oder es sei nicht, oder es sei. Ein Unendliches und Ewiges hat keine Eigenschaften, weil es alle Eigenschaften hat. Das Nichts oder die Fülle nennen wir das PLEROMA. Dort drin hört Denken und Sein auf, denn das Ewige und Unendliche hat keine Eigenschaften. In ihm ist keiner, denn er wäre dann vom Pleroma unterschieden und hätte Eigenschaften, die ihn als etwas vom Pleroma unterschieden. Im Pleroma ist nichts und alles: es lohnt sich nicht über das Pleroma nachzudenken, denn das hieße: sich selber auflösen.
Die CREATUR ist nicht im Pleroma, sondern in sich. Das Pleroma ist Anfang und Ende der Creatur. Es geht durch sie hindurch, wie das Sonnenlicht die Luft überall durchdringt. Obschon das Pleroma durchaus hindurch geht, so hat die Creatur doch nicht Theil daran, so wie ein vollkommen durchsichtiger Körper weder hell noch dunkel wird durch das Licht, das durch ihn hindurch geht.
Wir sind aber das Pleroma selber, denn wir sind ein Theil des Ewigen und Unendlichen. Wir haben aber nicht theil daran, sondern sind vom Pleroma unendlich weit entfernt, nicht räumlich oder zeitlich, sondern WESENTLICH, indem wir uns im Wesen vom Pleroma unterscheiden als Creatur, die in Zeit und Raum beschränkt ist.
Indem wir aber Theile des Pleroma sind, so ist das Pleroma auch in uns. Auch im kleinsten Punkt ist das Pleroma unendlich, ewig und ganz, denn klein und groß sind Eigenschaften, die in ihm enthalten sind. Es ist dies Nichts, das überall ganz ist und unaufhörlich. Daher rede ich von der Creatur als einem Theile des Pleroma, nur sinnbildlich, denn das Pleroma ist wirklich nirgends geteilt, denn es ist das Nichts. Wir sind auch das ganze Pleroma, denn sinnbildlich ist das Pleroma der kleinste nur angenommene, nicht seiende Punkt in uns und das unendliche Weltgewölbe um uns.

Warum aber sprechen wir denn überhaupt vom Pleroma, wenn es doch Alles und Nichts ist ?
Ich rede davon, um irgendwo zu beginnen, und um Euch den Wahn zu nehmen, dass irgendwo außen oder innen ein von vornherein Festes oder irgendwie Bestimmtes sei. Alles sogenannte Feste oder Bestimmte ist nur verhältnismäßig. Nur das dem Wandel unterworfene ist fest und bestimmt. Das wandelbare aber ist die Creatur, also ist sie das einzig feste und bestimmte, denn sie hat Eigenschaften, ja sie ist selber Eigenschaft.

Wir erheben die Frage: wie ist die Creatur entstanden? Die Creaturen sind entstanden, nicht aber die Creatur, denn sie ist die Eigenschaft des Pleroma selber, so gut wie die Nichtschöpfung, der ewige Tod. Creatur ist immer und überall, Tod ist immer und überall. Das Pleroma hat alles, Unterschiedenheit und Ununterschiedenheit.
Die Unterschiedenheit ist die Creatur. Sie ist unterschieden. Unterschiedenheit ist ihr Wesen, darum unterscheidet sie auch. Darum unterscheidet der Mensch, denn sein Wesen ist Unterschiedenheit. Darum unterscheidet er auch die Eigenschaften des Pleroma, die nicht sind. Er unterscheidet sie aus seinem Wesen heraus. Darum muss der Mensch von den Eigenschaften des Pleroma reden, die nicht sind.

Ihr sagt: Was nützt es, davon zu reden? Du sagtest doch selbst, es lohne sich nicht, über das Pleroma zu denken.
Ich sagte Euch das, um Euch vom Wahne zu befreien, dass man über das Pleroma denken könne. Wenn wir die Eigenschaften des Pleroma unterscheiden, so reden wir aus unsrer Unterschiedenheit und über unsre Unterschiedenheit, und haben nichts gesagt über das Pleroma. Über unsere Unterschiedenheit aber zu reden ist notwendig, damit wir uns genügend unterscheiden können. Unser Wesen ist Unterschiedenheit. Wenn wir diesem Wesen nicht getreu sind, so unterscheiden wir uns ungenügend. Wir müssen darum Unterscheidungen der Eigenschaften machen.

Ihr fragt: Was schadet es, sich nicht zu unterscheiden?
Wenn wir nicht unterscheiden, dann geraten wir über unser Wesen hinaus, über die Creatur hinaus und fallen in die Ununterschiedenheit, die die andere Eigenschaft des Pleroma ist. Wir fallen in das Pleroma selber und geben es auf, Creatur zu sein. Wir verfallen der Auflösung im Nichts.
Das ist der Tod der Creatur. Also sterben wir in dem Maße, als wir nicht unterscheiden. Darum geht das natürliche Streben der Creatur auf Unterschiedenheit, Kampf gegen uranfängliche, gefährliche Gleichheit.

Dieß nennt man das PRlNCIPIUM INDIVIDUATIONIS. Dieses Princip ist das Wesen der Creatur. Ihr seht daraus, warum die Ununterschiedenheit und das Nichtunterscheiden eine große Gefahr für die Creatur ist.
Darum müssen wir die Eigenschaften des Pleroma unterscheiden. Die Eigenschaften sind die GEGENSATZPAARE, als
 

das Wirksame  &  das Unwirksame,
die Fülle  &  die Leere,
das Lebendige  &  das Tote,
das Verschiedene  &  das Gleiche,
das Helle  &  das Dunkle,
das Heiße  &  das Kalte,
Die Kraft  &  der Stoff,
die Zeit  &  der Raum,
das Gute  &  das Böse,
das Schöne  &  das Hässliche,
das Eine  &  das Viele,
   etc.


Die Gegensatzpaare sind die Eigenschaften des Pleroma, die nicht sind, weil sie sich aufheben.
Da wir das Pleroma selber sind, so haben wir auch alle diese Eigenschaften in uns; da der Grund unsres Wesens Unterschiedenheit ist, so haben wir die Eigenschaften im Namen und Zeichen der Unterschiedenheit, das bedeutet:
erstens: die Eigenschaften sind in uns von einander unterschieden und geschieden, darum heben sie sich nicht auf, sondern sind wirksam. Darum sind wir das Opfer der Gegensatzpaare. In uns ist das Pleroma zerrissen.
zweitens: Die Eigenschaften gehören dem Pleroma, und wir können und sollen sie nur im Namen und Zeichen der Unterschiedenheit besitzen oder leben. Wir sollen uns von den Eigenschaften unterscheiden. Im Pleroma heben sie sich auf, in uns nicht. Unterscheidung von ihnen erlöst.
Wenn wir nach dem Guten oder Schönen streben, so vergessen wir unsres Wesens, das Unterschiedenheit ist und wir verfallen den Eigenschaften des Pleroma, als welche die Gegensatzpaare sind. Wir bemühen uns, das Gute und Schöne zu erlangen, aber zugleich auch erfassen wir das Böse und Hässliche, denn sie sind im Pleroma eins mit dem Guten und Schönen. Wenn wir aber unserm Wesen getreu bleiben, nämlich der Unterschiedenheit, dann unterscheiden wir uns vom Guten und Schönen, und darum auch vom Bösen und Hässlichen, und wir fallen nicht ins Pleroma, nämlich in das Nichts und in die Auflösung

Ihr werfet ein: Du sagtest, dass das Verschiedene und Gleiche auch Eigenschaften des Pleroma seien. Wie ist es, wenn wir nach Verschiedenheit streben? Sind wir dann nicht unserm Wesen getreu? Und müssen wir dann auch der Gleichheit verfallen, wenn wir nach Verschiedenheit streben?
Ihr sollt nicht vergessen, dass das Pleroma keine Eigenschaften hat. Wir erschaffen sie durch das Denken. Wenn Ihr also nach Verschiedenheit oder Gleichheit oder sonstigen Eigenschaften strebt, so strebt Ihr nach Gedanken, die Euch aus dem Pleroma zufließen, nämlich Gedanken über die nichtseienden Eigenschaften des Pleroma. Indem Ihr nach diesen Gedanken rennt, fallet Ihr wiederum ins Pleroma und erreicht Verschiedenheit und Gleichheit zugleich. Nicht euer Denken, sondern euer Wesen ist Unterschiedenheit. Darum sollt Ihr nicht nach Verschiedenheit, wie Ihr sie denkt, streben, sondern NACH EUERM WESEN. Darum giebt es im Grunde nur ein Streben, nämlich das Streben nach dem eigenen Wesen. Wenn Ihr dieses Streben hättet, so brauchtet Ihr auch gar nichts über das Pleroma und seine Eigenschaften zu wissen und kämet doch zum richtigen Ziele kraft eures Wesens. Da aber das Denken vom Wesen entfremdet, so muss ich Euch das Wissen lehren, womit Ihr euer Denken im Zaume halten könnet.

zurück zum Inhalt
nach unten zu Belehrung III

Sermo II

Die Toten standen in der Nacht den Wänden entlang und riefen: Von Gott wollen wir wissen, wo ist Gott? Ist Gott tot?
Gott ist nicht tot, er ist so lebendig wie je. Gott ist Creatur denn er ist etwas Bestimmtes und darum vons Pleroma unterschieden. Gott ist Eigenschaft des Pleroma, und alles was ich von der Creatur sagte gilt auch von ihm.
Er unterscheidet sich aber von der Creatur dadurch, dass er viel undeutlicher und unbestimmbarer ist, als die Creatur. Er ist weniger unterschieden als die Creatur, denn der Grund seines Wesens ist wirksame Fülle, und nur insofern er bestimmt und unterschieden ist, ist er Creatur, und insofern ist er die Verdeutlichung der wirksamen Fülle des Pleroma.
Alles, was wir nicht unterscheiden, fällt ins Pleroma und hebt sich mit seinem Gegensatz auf. Darum, wenn wir Gott nicht unterscheiden, so ist die wirksame Fülle für uns aufgehoben.
Gott ist auch das Pleroma selber, wie auch jeder kleinste Punkt im Geschaffenen und im Ungeschaffenen das Pleroma selber ist.
Die wirksame Leere ist das Wesen des Teufels. Gott und Teufel sind die ersten Verdeutlichungen des Nichts, das wir Pleroma nennen. Es ist gleichgültig, ob das Pleroma ist, oder nicht ist, denn es hebt sich in allem selber auf. Nicht so die Creatur. Insofern Gott und Teufel Creaturen sind, heben sie sich nicht auf, sondern bestehen gegen einander als wirksame Gegensätze. Wir brauchen keinen Beweis für ihr Sein, es genügt, dass wir immer wieder von ihnen reden müssen. Auch wenn beide nicht wären, so würde die Creatur, aus ihrem Wesen der Unterschiedenheit heraus, sie immer wieder aus dem Pleroma heraus unterscheiden.
Alles was die Unterscheidung aus dem Pleroma herausnimmt, ist Gegensatzpaar, daher zu Gott immer auch der Teufel gehört.
Diese Zusammengehörigkeit ist so innig, und wie Ihr erfahren habet, auch in euerm Leben so unauflösbar, wie das Pleroma selber. Das kommt davon, dass die Beiden ganz nahe am Pleroma stehen, in welchem alle Gegensätze aufgehoben und eins sind.
Gott und Teufel sind unterschieden durch voll und leer, Zeugung und Zerstörung. Das WIRKENDE ist ihnen gemeinsam. Das Wirkende verbindet sie. Darum steht das Wirkende über beiden und ist ein Gott über Gott, denn es vereinigt die Fülle und die Leere in ihrer Wirkung.
Dies ist ein Gott, von dem Ihr nicht wusstet, denn die Menschen vergaßen ihn. Wir nennen ihn mit seinem Namen ABRAXAS. Er ist noch unbestimmter als Gott und Teufel.
Um Gott von ihm zu unterscheiden, nennen wir Gott HELIOS oder Sonne.
Der Abraxas ist Wirkung, ihm steht nichts entgegen, als das Unwirkliche, daher seine wirkende Natur sich frei entfaltet. Das Unwirkliche ist nicht, und widersteht nicht. Der Abraxas steht über der Sonne und über dem Teufel. Er ist das unwahrscheinlich Wahrscheinliche, das unwirklich Wirkende. Hätte das Pleroma ein Wesen, so wäre der Abraxas seine Verdeutlichung.
Er ist zwar das Wirkende selbst, aber keine bestimmte Wirkung, sondern Wirkung überhaupt.
Er ist unwirklich wirkend, weil er keine bestimmte Wirkung hat.
Er ist auch Creatur, da er vom Pleroma unterschieden ist.
Die Sonne hat eine bestimmte Wirkung, ebenso der Teufel, daher sie uns viel wirksamer erscheinen als der unbestimmbare Abraxas.
Er ist Kraft, Dauer, Wandel.
Hier erhoben die Toten großen Tumult denn sie waren Christen.

zurück zum Inhalt
nach unten zu Belehrung IV

Sermo III

Die Toten kamen heran wie Nebel aus Sümpfen und riefen: Rede uns weiter über den obersten Gott.
Der Abraxas ist der schwer erkennbare Gott. Seine Macht ist die größte, denn der Mensch sieht sie nicht. Von der Sonne sieht er das summum bonum, vom Teufel das infimum malum, vom Abraxas aber das in allen Hinsichten unbestimmte LEBEN, welches die Mutter des Guten und des Übels ist.
Das Leben scheint kleiner und schwächer zu sein als das summum bonum, weshalb es auch schwer ist zu denken, dass der Abraxas an Macht sogar die Sonne übertreffe, die doch der strahlende Quell aller Lebenskraft selber ist.
Der Abraxas ist Sonne und zugleich der ewig saugende Schlund des Leeren, des Verkleinerers und Zerstücklers, des Teufels.
Die Macht des Abraxas ist zwiefach. Ihr seht sie aber nicht, denn in Euern Augen hebt sich das Gegeneinandergerichtete dieser Macht auf.
Was Gott Sonne spricht, ist Leben,
was der Teufel spricht, ist Tod.
Der Abraxas aber spricht das verehrungswürdige und verfluchte Wort, das Leben und Tod zugleich ist.
Der Abraxas zeugt Wahrheit und Lüge, Gutes und Böses, Licht und Finsterniß im selben Wort, und in derselben Tat. Darum ist der Abraxas furchtbar.
Er ist prächtig wie der Löwe im Augenblick, wo er sein Opfer niederschlägt. Er ist schön wie ein Frühlingstag.
Ja, er ist der große Pan selber und der kleine. Er ist Priapos.
Er ist das Monstrum der Unterwelt, ein Polyp mit tausend Armen, beflügeltes Schlangengeringel, Raserei.
Er ist der Hermaphrodit des untersten Anfanges.
Er ist der Herr der Kröten und Frösche, die im Wasser wohnen und an's Land steigen, die am Mittag und um Mitternacht im Chore singen.
Er ist das Volle, das sich mit dem Leeren einigt.  Er ist die heilige Begattung, Er ist die Liebe und ihr Mord, Er ist der heilige und sein Verräter.
Er ist das hellste Licht des Tages und die tiefste Nacht des Wahnsinns.
Ihn sehen, heißt Blindheit, Ihn erkennen heißt Krankheit, Ihn anbeten heißt Tod, Ihn fürchten heißt Weisheit, Ihm nicht widerstehen heißt Erlösung.
Gott wohnt hinter der Sonne, der Teufel wohnt hinter der Nacht.
Was Gott aus dem Licht gebiert, zieht der Teufel in die Nacht. Der Abraxas aber ist die Welt, ihr Werden und Vergehen selber. Zu jeder Gabe des Gottes Sonne stellt der Teufel seinen Fluch.
Alles, was Ihr vom Gott Sonne erbittet, zeugt eine Tat des Teufels. Alles, was Ihr mit Gott Sonne erschafft, giebt dem Teufel Gewalt des Wirkens.
Das ist der furchtbare Abraxas.
Er ist die gewaltigste Creatur und in ihm erschrickt die Creatur vor sich selbst.
Er ist der geoffenbarte Widerspruch der Creatur gegen das Pleroma und sein Nichts.
Er ist das Entsetzen des Sohnes vor der Mutter.
Er ist die Liebe der Mutter zum Sohne.
Er ist das Entzücken der Erde und die Grausamkeit der Himmel.
Der Mensch erstarrt vor seinem Antlitz.
Vor ihm giebt es nicht Frage und nicht Antwort.
Er ist das Leben der Creatur.
Er ist das Wirken der Unterschiedenheit.
Er ist die Liebe des Menschen.
Er ist die Rede des Menschen.
Er ist der Schein und der Schatten des Menschen.
Er ist die täuschende Wirklichkeit.
Hier heulten und tobten die Toten, denn sie waren Unvollendete
.

Seite 2nach oben

http://www.feliz.de/html/sermo1.htm